Wisst ihr, manchmal kann man den Bogen überspannen. Als Square Enix beispielsweise vor gut neun Jahren eine Countdown-Website für etwas mit Bezug auf den DS-Kultklassiker The World Ends with You (zum Test) anteaserte, hoffte ich auf einen möglichen Nachfolger – und bekam stattdessen einen Smartphone-Port. Darin enthalten war dann aber doch ein kleines Teaserbild für eine mögliche Fortsetzung, zu der sich dann jedoch nichts materialisierte. In den folgenden Jahren zermürbte mich Square mit weiteren Countdowns für andere TWEWY-bezogene Projekte und Ähnlichem so sehr, dass mir das neue Zusatzszenario von The World Ends with You: Final Remix für die Switch (zum Test) richtig sauer aufstieß. „Wieder ein verdammter Teaser für eine Fortsetzung, die doch eh nicht kommt! Macht endlich was oder lasst es sein, ich habe keinen Bock mehr auf den Mist!“, dachte ich mir damals – völlig unwissend darüber, dass mit Neo: The World Ends with You drei Jahre später endlich ein tatsächlicher Nachfolger ins Haus stehen sollte, der mich bei der Ankündigung nach all der Teaserei einfach kalt ließ. Meine sture Seite gewann Oberhand, ich hatte einfach keinen Bock mehr.
Und dann spielte ich die im eShop erhältliche Demo und verliebte mich sofort in die Fortsetzung, von der ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie haben wollte.
Ein abgefahrener Sturm zieht auf
##bild84518rechts##Ähnlich wie der DS-Vorgänger dreht sich auch Neo um das Spiel der Reaper – ein Kampf um Leben und Tod, bei der die Teilnehmer eine Woche lang täglich eintrudelnde Missionen zu erfüllen haben, wenn sie nicht ausgelöscht werden wollen. Tatsächlich weht dieses Mal jedoch ein dezent anderer Wind: Die Partizipanten sind nicht mehr in Duos aufgeteilt, sondern treten in Teams an. Je nach Leistung des Spieltages verteilen die Reaper Punkte, die sich wiederum auf die Endplatzierung am siebten Tag auswirken. Ein gesunder Konkurrenzkampf also anstelle des Ringen ums nackte Überleben. Und genau in diesen geraten eines schönen Tages unser Protagonist Rindo Kanade sowie sein lockerer Kumpel Tosei „Fret“ Furusawa. Zusammen mit dem aus Teil 1 bekannten Mathemanier Sho Minamimoto sowie der später aufgelesenen Zockerin Nagi Usui versucht die als „Wicked Twisters“ ins Leben gerufene Gruppe, die Spitze der Tabelle zu erklimmen und das Spiel für sich zu entscheiden. Dass dabei schlussendlich deutlich mehr auf dem Spiel steht, dürften Kenner des DS-Erstlings natürlich schon meilenweit vorausahnen, doch die rund 30 bis 35 Stunden lange Geschichte unterhält trotzdem erstklassig. Zwar zünden die Charaktermomente nicht immer und speziell der Mittelteil der Handlung erfährt den ein oder anderen markanten Hänger, die sich stetig aufbauenden Mysterien um das neue Spiel der Reaper und die Hintergründe des Schauplatzes Shibuya fesseln jedoch nichtsdestotrotz bis zum Schluss. Kenntnisse des Vorgängers sind übrigens empfehlenswert, aber auch nicht Pflicht. Wenn sich mal relevante Eckdaten der Handlung finden, werden sie – unverblümt und ohne Rücksicht auf eventuelle Spoiler – auch zur Sprache gebracht, sodass selbst Quereinsteiger sich bis auf wenige Ausnahmen problemlos in der Story zurechtfinden sollten.
Euer Aktionsradius ist dabei je nach Ingame-Spieltag beschränkt. Mal dürft ihr nur linear eine Hand voll Bezirke von Shibuya besuchen, an anderer Stelle steht euch praktisch die komplette Gegend offen. Viel zu entdecken gibt es dabei jedoch nicht. Da das Spiel der Reaper auf einer anderen Realitätsebene stattfindet, können die Wicked Twisters nur bedingt mit der Umgebung interagieren. Eine Hand voll Klamottenläden zum Einkauf stylischer Ausrüstung mit soliden Werteboni sowie einige Restaurants könnt ihr besuchen, außerdem gelegentlich wenige Sidequests erledigen. Sowohl den Fashion-Aspekt als auch die Futterbudentour solltet ihr jedoch nicht vernachlässigen, denn Levelaufstiege beeinflussen lediglich die maximalen Trefferpunkte eurer Gruppe. Wollt ihr tatsächlich stärker werden, ist das richtige Equipment für saftige Boni sowie regelmäßige Restaurantbesuche für kleinere, dafür aber permanente Werteupgrades Pflicht. Beide Elemente laufen dabei auch dezent anders als im Vorgänger. So seid ihr nicht mehr auf eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln pro realen Tag beschränkt, sondern müsst lediglich im Blick behalten, dass die sich durch Kämpfe abbauende Sättigungsanzeige der Truppe unter 100% liegt – dann könnt ihr munter spachteln und stärker werden. Kleidung wiederum kann von Beginn an von jedem Gruppenmitglied angelegt werden, ohne dass ihr erst einen bestimmten Mutwert erreicht haben müsst. Stattdessen verfügt jedes Kleidungsstück über einen Style-Bonus, für den ihr wiederum erst den entsprechenden Charakterwert auf das angegebene Niveau gebracht haben müsst. Auf diese Weise wird etwa die Verdauung der Truppe im Austausch gegen den Erfahrungspunktegewinn enorm angeregt oder ein simpler Angriffsbonus für eine bestimmte Figur freigeschaltet. Insgesamt zwei schöne Verbesserungen, die den Aufbau der Teams bedeutend motivierender machen als die ständigen Beschränkungen aus dem ersten Spiel!
Immer schön networken!
##bild84535links##Was die Nebenquests anbelangt, belässt es Neo: The World Ends with You hingegen bei einem sehr oberflächlichen und simplen System. So erfordert keine der optionalen Missionen irgendwelche komplizierten Aktionen. In der Regel schaltet ihr schlichtweg direkt anwesende Gegner aus oder sucht einen gewünschten Gegenstand im selben Gebiet und schon ist die Sache gegessen. Interessante Erzählungen, wie sie etwa in den Yakuza-Spielen von Sega auftreten, dürft ihr hier nicht erwarten. Schade, hätte man doch aus dieser Stelle mehr aus den Persönlichkeiten Shibuyas herausholen können. Ignorieren solltet ihr die kleinen Zusatzaufgaben trotzdem nicht, bringen sie doch nicht nur häufig nützliche Pins oder zumindest etwas Geld ein, sondern legen auch einen neuen Verknüpfungsknoten in Rindos sozialem Netzwerk frei. Dabei handelt es sich um eine massive Liste an freischaltbaren Extras, die von erweiterten Menüs in den Restaurants über Eintausch-Pins bis hin zu waschechten Spielfeatures wie andere Schwierigkeitsgrade reichen. Die dafür notwendigen Freundschaftspunkte verdient ihr sowohl im Storyverlauf als auch durch eure Leistungen in speziellen Kettenkämpfen.
Für etwas Abwechslung bei der Geschichtsverfolgung und den Städtetouren sorgen übrigens die einzigartigen Skills eurer Figuren. So kann Nagi etwa direkt in die tiefe Psyche der Menschen eintauchen, um dort störende Noise zu beseitigen und so für Seelenfrieden zu sorgen, während Fret verschwommene Erinnerungen wachrüttelt. Besonders interessant ist Rindos Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen, wenn es mal wirklich brenzlig wird. Leider sind all diese Fähigkeiten nicht frei einsetzbar und schlicht an den Handlungsfortschritt oder Nebenquests gebunden. Und selbst dann werden sie nicht für besondere Puzzles eingesetzt, sondern dienen mehr der Narrative: Bei Rindos Zeitsprüngen ist anhand der übersichtlich kurzen Liste an Stationen stets ersichtlich, was genau zu tun ist, und in der Regel bleibt es bei einem Handgriff pro Gebiet. Wirklich interessante Kopfnüsse dürft ihr nicht erwarten. Selbst das aus dem Vorgänger bekannte Einflüstern von Gedanken (oder auch „Memes“, wie sie damals vor der Ära der Internetspäße genannt wurden) hat enorm an Bedeutung verloren und passiert praktisch gar nicht mehr.
Die Regeln der Straße
##bild84534rechts##Jetzt habe ich bereits von Pins und Kämpfen gesprochen, doch wie läuft das eigentlich ab und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nun, die Teilnehmer des Spiels der Reaper verfügen über die Gabe, ihre Umgebung zu scannen – also den verborgenen Geräuschen der Stadt zu lauschen. Einerseits lesen sie auf diese Weise die Gedanken von Passanten, die in der Regel äußerst amüsant, aber nicht von essenzieller Bedeutung sind, andererseits machen sie so Noise ausfindig. Das materialisierte Rauschen manifestiert sich in Monstergruppen, die ihr in Echtzeitkämpfen von der Bildfläche fegt. Interessant dadurch: Die Gefechte auf der Oberwelt bleiben weitestgehend optional, wenngleich ihr zwecks Level-Ups und Nahrungsboni natürlich trotzdem regelmäßig in den Ring steigen solltet. Jedem Gruppenmitglied weist ihr dabei einen Anstecker zu, der diesem bestimmte Kräfte verleiht. Von Feuerwirbeln über Blitzkugeln bis hin zu Hochgeschwindigkeitstritten ist alles dabei, was das Herz begehrt. Wichtig ist jedoch, dass jede Fähigkeit auch einer bestimmten Taste zugeordnet ist. So sind schnelle Projektile normalerweise auf Y daheim, während Ladeangriffe wie beispielsweise Bomben auf den Schultertasten liegen. Zu Beginn dürfen sich die Kommandos nicht überschneiden, später schaltet ihr jedoch die Möglichkeit dazu frei. Trotzdem empfand ich es als effizienter, möglichst verschiedene Pinfähigkeiten ins Gefecht zu nehmen und die Feindesscharen mit fiesen Kombos zu drangsalieren. Speziell im späteren Verlauf, wenn euch die volle Pin-Palette potenziell zur Verfügung steht, können hierbei auch Moves mit mordmäßigem Fingerverknotpotenzial herauskommen – ganz wie man es vom DS kennt!
Die Kombos sind zudem für eine weitere Spielmechanik wichtig: Der Groove. Bestimmte Abschlussschläge oder andere ähnliche Manöver lassen einen kreisrunden Countdown über dem erfassten Gegner erscheinen, während dessen ihr mit einem zweiten Fighter zum Nachschlag ansetzen müsst, um die Groove-Prozentanzeige zu füttern. Bei 100% Groove steht euch dann der so genannte „Mashup“ zur Verfügung – ein extrem mächtiger Angriff, dessen genaue Natur auf dem Element des zuletzt verketteten Pins basiert. So beschwört ihr etwa einen riesigen Meteoriten herbei, der eine Feuersbrunst auf dem Spielfeld hinterlässt, oder sperrt eure Feinde in einen Elektro-Käfig. Kombiniert mit den ohnehin vielfältigen Ansteckermoves gibt es also reichlich Optionen, den Kampfstil eurer Truppe an eure Spielvorlieben anzupassen. Löblich, war doch gerade das Kampfsystem trotz seiner ungemein harten Lernkurve mit eine der großen Stärken des originalen The World Ends with You!
##bild84536links##Leider waren die Fights damals aber auch etwas anders: Angenehm kurz. Im späteren Spielverlauf waren mir die Gegner beizeiten dezent zu ausdauernd, was gerade in Kombination mit nervigen Noise-Varianten, die etwa ungewöhnlich groß und stark ausfallen oder nur auf bestimmte Weise bekämpft werden können, für regelrechte Marathon-Gefechte sorgte. Ein dezent unangenehmer Umstand, zumal euch Neo: The World Ends with You die Möglichkeit bietet, mehrere Gegnergruppen in einen aus mehreren Phasen bestehenden Kampf zu verketten. Je mehr Noise ihr dabei einwickelt, desto mehr oder seltenere Pins hagelt es dabei für euch. Besagte Droprate lässt sich zudem durch absichtliche Levelminderung eures Teams – und somit einen gefährlichen HP-Malus – steigern. Alternativ schraubt ihr am Schwierigkeitsgrad, wobei die Noise je nach Stufe teils komplett unterschiedliche Sachen hinterlassen können. So bietet euch das Spiel einerseits die Option, die Konfrontationen gemäß eurer Fähigkeiten anzupassen, entlohnt aber auch geschicktere Naturen. Löblich bei alldem: Aus Fights mit Noise auf offener Straße könnt ihr jederzeit fliehen und nehmt dabei sogar all die Erfahrungspunkte und Levelaufstiege mit, die ihr bis dahin erringen konntet – nur der Loot, äh, das erbeutete „Bling“ wandert nicht in euren Besitz über. Und solltet ihr mal einen Kampf verlieren, könnt ihr ihn entweder direkt neu starten, vor dem nächsten Versuch im Menü eure Ausrüstung anpassen oder immer noch Fersengeld geben. Dank großzügiger Autosaves nach jedem abgeschlossenen Gefecht, Gebietsübergang oder Ereignis gibt es in der Regel eh nicht viel Fortschritt, der euch bei einem Game Over verlorenginge.
Stylisch bis zum Abspann
The World Ends with You war aber nicht nur für sein Kampfsystem bekannt, sondern auch für seinen Style. Die 2D-Pixelkunst, abgefahrenen Noise-Designs und nicht zuletzt modebewusste Truppe verleihte dem DS-Spiel eine besondere Atmosphäre. Ich bin daher froh, dass Neo den Stil sicher in die dritte Dimension transportieren konnte. Speziell die Noise, die Tierkörper mit Graffiti-Mustern kombinieren, wirken auch in 3D einmalig und dank der neuen Kamerafahrten (sowie der bei Gebietsübergängen eingeblendeten Karte) fand ich mich dieses Mal bedeutend schneller in Shibuya zurecht, als es noch auf dem DS der Fall war. An überzeichneten Schauplätzen wie der fast schon über der Straße gewölbt wirkenden Tipsy Tose Hall mangelt es ebenfalls nicht – das Spiel bleibt eine wahre Augenweide. Ferner machen die vielen Dialogsequenzen fleißig von der neuen Auflösung Gebrauch: Statt die Gesprächsparter fix an wenigen Stellen im Screen zu halten, schaltet das Spiel munter zwischen verschiedenen Posen, Positionen und Bildausschnitten her und scheut sich auch nicht davor, amüsante gröbere Zeichnungen zu zeigen. Das macht die Unterhaltungen trotz der limitierten Animationen direkt lebendiger! Schade ist hingegen, dass die Switch im von mir gespielten Handheldmodus speziell gegen Ende technisch spürbar ins Schwitzen kam. Wenn man denn nämlich im Gefecht effektvolle Pins aus dem Hut zaubert und die Arena parallel mit Feuerstürmen, Lasern und Bomben flutet, während die Gegner ihre jeweiligen Moves auspacken, kommt die kleine Konsole schon mal ins Ruckeln. Die meiste Zeit über verzeichnete ich jedoch eine runde Spielerfahrung.
##bild84522rechts##Zum Style gehört natürlich nicht nur die Optik, sondern auch die Musik – und auch hier gibt sich Neo keine Blöße. Neben massig Remixes altbekannter Stücke erwartet euch eine breit gefächerte Palette neuer Songs, die munter bei euren Märschen durch die Straßen Shibuyas sowie in den Tänzen mit den Noise durchgemischt werden. Die immense musikalische Abwechslung mit einem gesunden mich aus Rock, Pop und Techno ist mehr als willkommen! Ferner gibt es nun einiges an Sprachausgabe – speziell die jeweiligen Kapiteleinstiege und -enden sind in der Regel vollständig in japanischer oder englischer Sprache vertont. Und zumindest die englische Tonspur, die ich mir anhörte, ist erstklassig geworden. Gleiches gilt übrigens für die erfreuliche deutsche Übersetzung, die sich bedeutend besser und natürlicher liest, als es noch in der von Final Remix der Fall war. Großes Lob an das Lokalisierungsteam, das sich hierbei absolut nicht ver-zetta-lt hat!